von Barnabas Calder
Jeder erkennt brutalistische Architektur – die wuchtigen Betongebäude, die während der 1960er und 1970er Jahre ihre graue Masse in das Herz fast jeder Stadt auf der Welt kübelten. Sie wirken heute oft vernachlässigt: gezeichnet von Regen und Schmutz, unbarmherzig grau und ohne die hübsche oder humane Anmutung älterer Architektur. Der brutalistische Beton fristet häufig sein unglamouröses Dasein als Straßeninfrastruktur, als veraltetes Einkaufszentrum mit heruntergekommenen Geschäften oder, im besten Fall, an vielen Universitäten und Schulen als Unterrichtsgebäude von schäbiger Alltäglichkeit.
Es verwundert kaum, dass der Stil von vielen gehasst wird. Die in den 1980er Jahren bejubelten Anfeindungen durch den Prinzen von Wales wirken bei einigen noch nach (über das Britische Nationaltheater sagte er, es sei „eine clevere Art, ein Atomkraftwerk mitten in London zu bauen, ohne dass sich jemand beschwert“ ) und Beton wird als billig, handwerklich minderwertig und trostlos empfunden.
Dem widerspreche ich entschieden. Ich liebe den Brutalismus und ich behaupte, dass er der Architektur jeder anderen Epoche nicht nur ebenbürtig, sondern sogar überlegen ist. Nie gab es eine bemerkenswertere Periode architektonischer Errungenschaften.
Die außergewöhnliche Brillanz der Architektur der 1960er Jahre beruht zum Teil auf technischem Fortschritt. In seiner Vielseitigkeit und Festigkeit war der Stahlbeton traditionellen Baustoffen weit überlegen und ermöglichte den Architekten Formen zu wählen, die sie für nützlich und schön erachteten. Damit starb die jahrhundertelange Tyrannei der tragenden Fassade – einer strukturell notwendigen vertikalen Fläche, die kaum mehr Spielraum ließ als zu entscheiden, wo man Fenster anbringen und wie man sie verzieren sollte. Durch den Einsatz von Beton konnten wenige Säulen die ganze Last tragen und darüber fluteten Luxusdecks, wie und wo Architekt und Bauherr es wollten, ohne dem Diktat der Schwerkraft folgen zu müssen. Es gab mehr Freiflächen im Außenbereich, mehr Licht, ausgelagerte Gehwege in beliebiger Höhe oder großzügig ausladende Terrassen hoch oben an Gebäuden. Durch neuere, bessere Heizungssysteme, als es offene Kamine waren, konnten die Fenster größer gestaltet werden und die Räume erreichten Ausmaße, bei denen sie in früheren Jahrhunderten unerträglich zugig gewesen wären. Den Architekten der 1960er Jahre stand eine erheblich umfangreichere Palette zum Malen zur Verfügung.
Und schön war Beton auch. Er ist dem Stein der gotischen Kathedralen des Mittelalters in dem Sinne verwandt, als es sich auch beim Beton um ein komplettes System aus einem einzigen Material handelt: Struktur, Oberfläche und Dekoration entspringen alle daraus, wie und aus was sie gemacht sind. Gotisches Mauerwerk jedoch war gefangen in der Form, die ihm von der Physik der Bögen aufgezwungen wurde. Den besten Steinmetzen gelang es, den begrenzten Fundus auf phänomenal schöne und intelligente Weise in großartige Kunst zu verwandeln. Doch wie überwältigend auch war, was sie vollbrachten, es war begrenzt: fantastische Kirchen, aber nicht viel mehr. In Beton hingegen konnte man sich alles Mögliche vorstellen. Und er brauchte nicht, wie die meisten älteren Gebäude, regelmäßig einen neuen Anstrich, es mussten nicht unaufhörlich herabgefallene Dachziegel nach windigen Tagen ersetzt oder Mauerwerk kostspielig ausgebessert werden. Beton ertrug die Härten des Stadtlebens mit unbeugsamer Widerstandsfähigkeit und spröder Würde.
Für die Architekten der Moderne in den 1960er Jahren, die von der Auseinandersetzung der Kunst- und Handwerksbewegung mit dem Gedanken der Aufrichtigkeit beeinflusst waren – mit Gebäuden und Materialien, die aussahen wie das, was sie waren –, lag der Reiz des Betons in der Schönheit absoluter Klarheit. Ohne besonderes Wissen kann man schon bei oberflächlicher Betrachtung die Beschaffenheit eines Gebäudes und seinen Aufbau erkennen. Ob der Beton in situ in sorgfältig vorbereitete Verschalungen gegossen oder in einer speziellen Werkstatt gefertigt und mit einem Kran in Position gebracht wurde; ob die Verschalung aus rau gemastertem Holz oder aus glattem Fiberglas war; oder welche Teile Gewicht tragen und welche nur Verblendungen des Tragwerks sind.
Günstige Energie machten Stahl und Glas, die einst viel zu luxuriös für einen verbreiteten Einsatz in der Architektur gewesen waren, erschwinglich und verfügbar, und sie ermöglichte die Massenproduktion des wichtigsten Bestandteils von Beton, Zement. Diese nunmehr verfügbaren Materialien und leistungsfähige benzinbetriebene Krane und Bagger begünstigten einen internationalen Bauboom von nie gekanntem Ausmaß: Wohnungen, Universitäten, Schulen, Regierungsgebäude, Büros, Geschäfte und Einkaufszentren wurden weltweit errichtet, viele davon in einem Maßstab, der vor der industriellen Revolution den Palästen der Mächtigsten dieser Welt vorbehalten war. Auch die Zahl der Architekten und der Bauaufträge war vollkommen beispiellos. Die Kenntnisnahme von den Entwicklungen in anderen Ländern wurde durch einen vereinfachten internationalen Reiseverkehr begünstigt und eine hyperaktive Fachpresse schnappte neue Ideen und Bilder auf, wo immer sie sie finden konnte, um sie für das eigene Publikum neu zu verpacken.
Das Maß wechselseitiger Beachtung und der Wettbewerb unter den ambitionierten Architekten war vergleichbar mit der Rivalität der Maler im Florenz der Renaissance, aber die Zahl der Architekten und Aufträge war bedeutend größer und sie ließen dieses berühmteste aller kreativen Treibhäuser im Vergleich zur weltweit vernetzten Metropolis der neunzehnhundertsechziger Architektur wie ein künstlerisches Dorf aussehen.
Weltweit wurden Architekten von diesen neuen, herrlich befreienden Möglichkeiten und vom sich immer weiter beschleunigenden Galopp des technischen Fortschritts stimuliert. Sie waren begeistert von der inspirierenden bewohnbaren Kunst, die der französisch-schweizerische Architekt Le Corbusier seit Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffen hatte. Diese internationale Stilbewegung wird unter soziologischen Gesichtspunkten in jedem Land anders bewertet. Als Ausdruck des Wohlfahrtsstaats in Großbritannien, als Politik des kalten Krieges in den USA und der UdSSR, als Selbst-Wiedererfindung nach dem Krieg in Japan, als stolze Unabhängigkeit vom Britischen Empire in Indien, als Wiederannäherung und Entspannung nach der Unterdrückung in Francos Spanien und so weiter. In all dem liegt viel Wahrheit, doch die Allgegenwärtigkeit des Stils spricht auch eindeutig für ein technisches und künstlerisches Momentum.
Die Architekten der Zeit neigten dazu, ihre starke künstlerische Intention zu verschweigen. Während die großen Gönner früherer Perioden oft mächtige Einzelpersonen waren, denen die Konversation über die kosmische Signifikanz ihrer Baupläne schmeichelte, war der typische Auftraggeber eines Brutalisten ein Komitee, das die Verantwortung für die Verwaltung eines öffentlichen Budgets oder des Budgets eines Unternehmens trug. Architekten sprachen und schrieben über ihre Gebäude in langweiliger, trockener und technischer Manier, was, während es sie zu jener Zeit vor ästhetischer Kontrolle bewahrte, auf lange Sicht jedoch dazu beitrug, dass ihre künstlerischen Fähigkeiten unterschätzt wurden.
Paul Rudolph zum Beispiel, der mit Abstand expressivste Brutalist aus den Vereinigten Staaten, schuf in Boston für das Informationszentrum der Regierung einen sich windenden Schlangenkampf kurviger Treppen, die weitschweifig durch eine Landschaft von Betonpilzen schlittern und über denen eine klobige Klippe aus Büros mit einer mysteriösen Beule schwebt, die an einen heimtückischen Frosch erinnert. Das gesamte Gebäude hat eine Textur aus gemeißelten Betonrippen, was ihm die Wirkung ungemeiner Stabilität und Dauerhaftigkeit verleiht und die Momente um so bemerkenswerter macht, wo das Raue zugunsten fast polierter Weichheit an Stellen zurückweicht, wo menschliche Hände entlanggleiten könnten. Rudolphs Gebäude ist üppiger und sinnlicher als das deutsche Barock und von so überwältigender Kargheit wie ein alpine Schlucht. Doch nach seiner ästhetischen Intention gefragt, antwortete er, vermutlich mit einem unterdrückten Lachen ob seines eigenen trockenen Humors, die Gestaltung sei eine „einfache, funktionale Lösung für Probleme der Luftzirkulation und der Entwässerung“.
Es ist an der Zeit, sich von solchen Aussagen nicht mehr an der Nase herumführen zu lassen und sich stattdessen an der größten aller Perioden der Architekturgeschichte zu erfreuen – diesem kurzen, aber wertvollen Moment, nachdem die strukturellen Einschränkungen durch Ziegel, Stein und Holz überwunden waren und bevor die Ölkrise der 1970er Jahre den optimistischen Zukunftsglauben der 1960er Jahre zerstörte. Eine Ausführung von Betonarbeiten, die so gut ist wie die Rudolphs, erfordert genauso viel Kunstfertigkeit und ist genauso beachtenswert wie die älterer Bautechniken. Die Qualität ist sichtbar, wenn man genau hinschaut.
Das Aufkommen eines schuldgetriebenen Umweltbewusstseins schränkt die Möglichkeiten der Architekten zu Recht ein und daran wird sich auch auf absehbare Zeit nichts ändern. Der Brutalismus wird niemals wiederkehren. Unser Vorrat an Brutalismus ist begrenzt und unglücklicherweise konstant bedroht. Die Zerstörung und „Sanierung“ von Gebäuden von Rudolph, I M Pei, Denys Lasdun und anderen Giganten der Bewegung sollten genauso ernst genommen werden wie der Verlust von Bauten von Donato Bramante, Christopher Wren oder Frank Lloyd Wright. Der Brutalismus verdient Besseres als die Abrissbirne: Er war der Inbegriff der Welt-Architektur für alle Zeit.
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Barnabas Calder ist Senior Lecturer in Architecture an der University of Liverpool. Sein aktuelles Buch Raw Concrete: The Beauty of Brutalism ist 2016 bei William Heinemann/Penguin Books erschienen).
Dieser Artikel erschien am 15.06.2016 unter dem Originaltitel „The concrete buildings of Brutalism are beautiful“ bei Aeon und wird hier unter Creative Commons wiederveröffentlicht.
Übersetzung ins Deutsche: Eckhard Heck